Nach einigen Tagen mit reizarmer Schonkost ging es Ralf wieder einwandfrei. Ein Gedanke ließ ihn allerdings nicht mehr los. Was wäre wohl passiert, wenn er nicht ganz so betrunken gewesen wäre und diesem hüpfenden Gummiball auf der Tanzfläche näher gekommen wäre? Ob er wohl in seinem Zustand in der Lage gewesen wäre, alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen korrekt durchzuführen?
Als er sich an die vielen Geschichten über ungewollte Schwangerschaften erinnerte, formte sich ein trüber Gedanke, der in ihm schon länger vor sich hin gärte, zu einer glasklaren Erkenntnis: Nur eine Sterilisation garantierte dauerhafte Sicherheit. Kondome waren angesichts der denkbaren Konsequenzen einfach nicht sicher genug.
In der urologischen Gemeinschaftspraxis erklärte ein erfahrener Arzt routiniert den Ablauf: die Samenleiter werden mit einem klitzekleinen Schnitt durchtrennt, die Enden werden verödet und das Ganze verläuft ambulant. Der Eingriff dauert zwanzig Minuten und kostet fünfhundert Euro, da die Krankenkasse eine „freiwillige Vasektomie als familienplanerische Maßnahme“ (was für ein Ausdruck!) nicht bezahlt. Eine Ultraschalluntersuchung ergab grünes Licht, dank Urlaubszeit war schon in zwei Wochen ein OP-Termin frei und so wurden sie sich schnell einig.
Ralf unterschrieb ein Papierchen wegen den Risiken: tödliche Allergien gegen das Betäubungsmittel, Impotenz, Lähmungen, Wachkoma, eben die üblichen Kleinigkeiten. Aber was soll mit so einem erfahrenen Arzt bei einem Routineeingriff schon passieren? Da Ralf eine panische Angst vor Spritzen und Infusionen hatte, verzichtete er auf die optionale Vollnarkose und machte ein Kreuzchen bei örtlicher Betäubung. Zwanzig Minuten können ja wohl nicht so schlimm werden, dachte er sich. Hätte er da nur noch mal gründlicher nachgedacht…
Zwei Wochen später fand sich Ralf mit nüchternem Magen und frisch rasiert (oben und unten) auf Station 4.21 ein und nahm im Wartebereich Platz. Schon nach zehn Minuten wurde er reingerufen und ein Pfleger in pensionsfähigem Alter bat ihn auf eine Liege. Er könne sich schon mal unten rum frei machen – der Herr Doktor komme gleich. Ralf wertete es als gutes Zeichen, wenn das Personal eine gewisse Reife und Erfahrung aufweisen kann und begann sich zu entspannen.
Wenig später stürmte ein durchtrainierter, braungebrannter Arzt zur Tür herein. Er sah aus, als hätte er gerade ein Tennismatch unterbrechen müssen, weil er dringend in seine Villa an der Cote d’Azur reisen muss. Er schüttelte energisch Ralfs Hand, drückte ihn kraftvoll zurück auf die Liege und sagte: „So, Herr Paschulke, Penisverkleinerung, ist ja ungewöhnlich, dann wollen wir mal“. Mit diesen Worten nahm er eine Spritze von einem Tischchen und beugte sich über Ralfs bloßgelegten Intimbereich.
Als Ralfs Herz nach drei endlosen Sekunden wieder zu schlagen begann, warf das Adrenalin in seinem Blut Blasen. Er versuchte seinen Protest in Worte zu fassen, aber die aufbrandende Panik ließ nur unverständliches Gestammel heraus. Der Arzt lachte wiehernd über sein entsetztes Gesicht und meinte: „War nur ein Scherzchen, ein bisschen Spaß muss sein, Har, Har, Har!“
„Also, ich bin der Anästhesist“, erklärte er dann. „Ich setze Ihnen jetzt die Betäubung, und dann warten Sie draußen, bis Sie zur OP reingerufen werden. Fragen?“ Ralf atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Das wird jetzt kurz pieksen und ein bisschen unangenehm“, sagte der Tennisarzt und rammte die Spritze in Ralfs empfindlichsten Körperteil. Sein Schrei blieb irgendwo auf halber Strecke stecken, denn eine Supernova explodierte in seinem Schmerzzentrum und raubte ihm den Atem.
„Schön locker bleiben, jetzt kommt noch die andere Seite!“ meinte der Scherzkeks. Diesmal konnte Ralf einen lauten, nicht jugendfreien Fluch brüllen, worauf der Arzt nur meinte „Ja, das tut jetzt weh. Aber das geht gleich vorbei“.
Mühsam wankte Ralf vor die Tür und ließ sich schwer in einen Stuhl fallen. Nach einer Weile ließ der Schmerz tatsächlich nach. Stattdessen breitete sich dort unten ein pelziges Gefühl aus, oder eigentlich eher ein Nichtgefühl. Der pelzige Bereich wurde immer größer und bald spürte er am Bauch auch nichts mehr. Das Atmen fiel ihm immer schwerer und als er aufstehen wollte, wurde ihm schwarz vor Augen. Eine Pflegerin huschte vorbei, aber sie nahm seinen flehenden Blick nicht wahr und verschwand hinter zischenden Automatik-Türen.
Ralf spürte, wie die Lähmung allmählich nach seinem Zwerchfell griff und ihm wurde schlagartig klar, dass hier etwas schrecklich schief lief. Entweder hatte ihm der Scherzkeks eine Überdosis verabreicht oder er reagierte mit allergischem Schock auf das Betäubungsmittel. Ralf konnte nur noch mit großer Anstrengung gegen seine fortschreitende Atemlähmung ankämpfen. Er überlegte, ob er auf dem Boden robbend die Entfernung bis zur OP-Tür überwinden könnte um dort nach Hilfe zu klopfen. Als ihm klar wurde, dass er mitten im Krankenhaus direkt vor dem OP-Saal sterben würde, brach er in hysterisches Lachen aus.
In diesem Moment öffnete sich die OP-Tür, der Pfleger rief seinen Namen und schaute ihn erwartungsvoll an. Ralf konnte nicht aufstehen, weil die Lähmung jetzt auch seine Beine erreicht hatte und er schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.
„Was ist denn mit Ihnen los?“, stutzte der Pfleger. „Sie hyperventilieren ja völlig! Jetzt hören Sie doch mal auf, so lächerlich zu atmen!“
Ralf versuchte ihm mit Zeichensprache zu erklären, dass sein Zwerchfell jeden Moment den Dienst einstellen würde, aber der Grobian packte ihn nur unter den Armen, zog ihn in den OP und bugsierte ihn auf die vorbereitete Schlachtbank.
„Ich lege Ihnen jetzt erst mal eine Infusion, dann bekommen Sie ein Beruhigungsmittel und danach wird es Ihnen gleich besser gehen“, sagte er und flüsterte mit einer jungen Frau, die im Hintergrund etwas las, offenbar eine Praktikantin. Als Ralf sich mit aller verbliebenen Kraft gegen die schreckliche Nadel wehrte, die in seinen Arm sollte, beugte die Praktikantin sich über ihn und blickte ihm tief in die Augen. Sie sagte irgendetwas von einem Team und dass er jetzt tapfer sein müsse. Ralf hätte nur zu gerne in ihrem Team gespielt, allerdings nicht auf diesem Spielfeld, und ergab sich schließlich in sein Schicksal. Sicher würde gleich sein Arzt kommen, und dann wäre er hier ruck-zuck wieder raus, versuchte er sich zu beruhigen. Er schloss die Augen, während der Pfleger ihn „unten rum“ desinfizierte.
Plötzlich spürte Ralf, wie Jemand grob an seinen Hoden zog. Als er die Augen öffnete, stand die Praktikantin über sein bestes Stück gebeugt, ein Skalpell in ihrer Hand. Ihm entfuhr ein spitzer Schrei und er schrie: „Nein, bitte nicht! Gehen Sie weg!“
Die junge Frau richtete sich auf und schaute ihn irritiert über ihren Mundschutz hinweg an.
„Wann kommt denn endlich mein Arzt? Der von der Voruntersuchung!“ wollte Ralf jetzt wissen.
„Der hat Urlaub. Ich sagte doch, dass wir hier im Team arbeiten“, antwortete die Praktikantin.
„Immer die Ruhe!“, mischte sich der Pfleger mit tadelndem Unterton ein. „Die Frau Doktor macht das schon“.
Ralfs Panik wuchs zu einem Tsunami heran, stärker als das Beruhigungsmittel, was auch die Praktikantin-Ärztin merkte.
„Drehen Sie den Tropf doch mal zwei Stufen höher“, sagte sie zu dem Pfleger.
Ralf war sich darüber klar, dass er eine denkbar schlechte Verhandlungsposition hatte; das Skalpell in ihrer Hand verdeutlichte die Machtverhältnisse sehr eindrücklich. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte: „Ich habe vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Ich wollte nur noch mal hören, was Sie genau vorhaben, weil ihr Kollege mich mit einem Scherz über eine Penisverkleinerung etwas nervös gemacht hat.“
„So ein Quatsch“, murmelte die Ärztin humorlos. „Vasektomie, beidseitig. Können wir jetzt?“
Ralf sah ein, dass dies eine Einbahnstraße ohne Wendemöglichkeit war und versuchte sich wieder zu entspannen. Er atmete tief in den Bauch und verdrängte jeden Gedanken an Blut oder Spritzen.
„Gell, jetzt spüren Sie die Infusionsnadel gar nicht mehr!“ riss der Pfleger Ralf aus seinen Gedanken. Er bedankte sich für die Erinnerung und wünschte dem psychologischen Kleingärtner Pest und Cholera.
„So, jetzt sind Sie halb unfruchtbar, obwohl ihnen das wahrscheinlich nicht viel nützt. Die eine Seite ist jedenfalls schon fertig!“ nervte schon wieder Ralfs psychologisch unterernährter Freund.
Ralf schaute zu der Jesusfigur, die von der Wand gegenüber mit leidender Miene zu ihm herunter blickte und dachte „Wenn du jetzt diesem kranken Pfleger eine Sprechlähmung verpasst, trete ich morgen in die Kirche ein“. Aber offenbar war seine Seele nicht wichtig genug, denn der Krankenpfleger quasselte putzmunter weiter.
„Das war doch gar nicht so schlimm. Schauen Sie mal, nur so wenig Blut!“ fügte er hinzu und hielt ihm einen blutgetränkten Wattebausch vor die Augen. Als Ralf qualvoll aufstöhnte, meinte er: „Was denn? Da erleben wir hier ganz andere Sachen. Das müssten Sie mal sehen, wie das hier aussieht, wenn so eine Arterie platzt!“ Als „das Team“ sich über seinen zweiten Samenleiter hermachte, konzentrierte sich Ralf wieder auf seine Atmung.
„Das sieht aber diesmal etwas blutiger aus“, informierte sein neuer Lieblingsfeind ihn kurz darauf über den aktuellen Stand der Dinge. „Und wie geht es mit der Infusion? Spüren Sie noch was?“ Er nestelte solange an den Schläuchen herum, bis Ralf wieder etwas spürte.
Eine energische Ansage holte Ralf wenig später in die Realität zurück. „Holen Sie mir jetzt den Grüninger, aber schnell, wenn es geht!“ Das Team schien leicht angespannt zu sein.
„Gibt es Probleme?“ fragte Ralf rein aus Neugier. Denn richtige Sorgen machte er sich wegen dem feinen Zeug in dem Infusionsbeutel schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.
„Probleme? Nein, so würde ich das nicht nennen“, beruhigte ihn die junge Frau. „Ihr Samenleiter ist nur gut versteckt, da brauche ich eine dritte Hand. Aber keine Sorge, das haben wir gleich.“
Mit verstärktem Team ging die OP in die entscheidende Phase.
„Ich hab den Samenleiter, jetzt ziehen Sie mal hier den Penis nach oben, damit ich an dem Nervenstrang vorbeikomme“.
„Sehr gut, ganz ruhig halten, ich schneide jetzt. Tupfen Sie mal hier, ich sehe ja gar nichts“.
Ralf ignorierte den kalten Schweiß auf seiner Stirn und versuchte mit angehaltenem Atem, sich nicht zu bewegen. In diesem kritischen Moment ging wie in Zeitlupe die Tür des OP’s auf. Ein älterer Mann schlurfte herein, in der Hand einen Plastikbecher, gefüllt mit einer dunkelgelben Flüssigkeit. „Grüß Gott, ich soll die Urinprobe hier in der Anmeldung abgeben“.
„Die Anmeldung ist eine Tür weiter“, klärte ihn die Ärztin pikiert auf, Ralfs Samenleiter in der einen Hand, das Skalpell in der anderen. So stand sie über seinen Penis gebeugt, den der Assistent tapfer in seiner Hand hielt.
„Ja, also, da war ich gerade eben schon, aber da ist niemand“, entgegnete der Mann hartnäckig und näherte sich der bestens ausgeleuchteten Szene unter dem OP-Strahler. Ralf bot seine Seele dem Teufel an im Tausch gegen ein schwarzes Loch im Boden, in dem er verschwinden könnte, aber auch der Leibhaftige hatte wohl momentan keine Nachwuchssorgen.
Als der Alte um den Sichtschutz herum in sein Blickfeld trat, sagte Ralf: „Hallo Herr Mayer, wollen Sie auch in unserem Team mitspielen?“
Diesen Beitrag widme ich allen Menschen, die einen Routineeingriff vor sich haben. Macht euch keine Sorgen, diese Geschichte ist frei erfunden. Die Wirklichkeit ist noch viel schlimmer.
„Routineeingriff“ ist in der Ärztesprache eine Zusammenfassung für den Sachverhalt „Ich habe das schon so oft gemacht, dass ich vor lauter Langeweile gar nicht mehr genau hinschaue und am liebsten die jungen Assistenten üben lasse“.