Um die albanische Riviera zu erreichen, muss man den Longarapass überwinden. Hier werden Material und Beifahrer in haarsträubend steilen Serpentinen auf eine harte Probe gestellt, aber die Überlebenden werden mit der Aussicht auf die herrlichen Strände und die Insel Korfu entschädigt.


Nach einigen entspannten Strandtagen machten wir uns auf den Weg in die albanische Bergwelt. Unterwegs bestaunten wir eine byzantinische Kirche und das blaue Auge Albaniens, Syri i Kaltër.


Dann folgten wir dem Lauf des wunderschönen Flusses Vjosë in die längste Sackgasse Albaniens, die Schlucht von Lengarica. Hier endet die zivilisierte Welt. Tagsüber planschten ein paar Einheimische in den warmen Thermalquellen von Benjë, aber Nachts konnten wir die Ruhe der Natur geniessen. Zumindest nachdem die SinnlosReisende unseren Nachbarn Bescheid gesagt hatte. Manche Leute haben eine eigenartige Vorstellung von Freiheit. Nur weil es kein Schild mit Vorschriften zur Nachtruhe gibt, glauben sie, sie könnten das ganze Tal mit ihrer Technomusik beschallen.




Die Gesetze der Berge
In der abgeschiedenen Bergwelt Albaniens gibt es seit Jahrhunderten zwei Prinzipien, denen sich alles andere unterordnet. Erstens muss die Familienehre mit allen Mitteln verteidigt werden, notfalls auch durch Blutrache, einem vornehmeren Wort für Mord. Da die Familie des Opfers verständlicherweise ihrerseits die eigene Ehre verletzt sah, wurden flugs Opfer- und Täterrollen getauscht und die Gegenblutrache ausgerufen. Das führte zu generationsübergreifenden Familienfehden, ohne dass die Beteiligten noch genau wussten, was eigentlich der Auslöser gewesen war. „Der Gaul deines Urgroßvaters hat schon damals dem Pferd meines Urgroßonkels das Gras weggefressen“, oder so etwa.

Zweitens ist Gastfreundschaft eine Pflicht, die über allem steht. Das führt zu absurden Situationen. Wenn der mit einer Blutrache belegte Erzfeind lebend die Türschwelle des Bluträchers erreicht, muss dieser ihm drei Tage lang Gastfreundschaft erweisen. Er muss ihm dann mit knirschenden Zähnen kostenlos Unterkunft gewähren und ihm seine besten Speisen und Getränke anbieten. Was nach diesen drei Tagen passiert, mag ich mir gar nicht ausmalen.

Wir kauften an einem Straßenstand vor einem alten Bergbauernhaus Oliven und Obst. Beim Bezahlen lächelte ich der Verkäuferin freundlich zu und bedankte mich. Aus dem Schatten löste sich ein Mann, der mich grimmig anstarrte.
Er gab mir zu verstehen, dass ich mit seiner Tochter geflirtet habe und er mich leider töten müsse, um die Familienehre wieder herzustellen. So sind halt die Regeln, was soll man machen? Beim Blick auf seinen langen Dolch beteuerte ich, dass ich niemals mit seiner Tochter flirten würde, nicht mal im Traum. Das wiederum kränkte den stolzen Familienvater so sehr, dass er mich nun für diese Beleidigung töten wollte.
Als er sich auf mich stürzte, rettete ich mich mit einem Sprung auf die Türschwelle des Bauernhauses. Der Mann steckte seinen Dolch zurück in den Gürtel und sagte: „Herzlich willkommen in meinem Heim, Fremder. Ich heiße Tarik und werde dir ein würdiger Gastgeber sein.“
Dann begrüßte er mich mit dem Wildpflaumenschnaps Raki, setzte mir die albanische Gastmütze auf den Kopf und schlachtete sein einziges Lamm.

Nach einem schmackhaften Mahl und einigen weiteren Rakis bot mir Tarik sein Bett an und legte sich auf die Türschwelle. Mehrmals versuchte ich mich nachts hinauszuschleichen, aber jedes Mal starrte mich Tarik mit stechendem Blick an.
Am zweiten Tag wurde mir klar, dass ich ein Problem hatte. Ich konnte Niemanden anrufen, denn meine albanische SIM-Karte hatte zwar unglaubliche 500 GigaByte Datenvolumen, erlaubte aber keine Gespräche. Die Internetabdeckung war in Albanien in jedem abgelegenen Tal besser als in der gesamten Ravensburger Weststadt. Das brachte mich auf eine Idee und ich holte mein Handy hervor.
Als der dritte Tag langsam zu Ende ging, schärfte Tarik die Schneide seines Dolchs an einem Wetzstein. Kurz vor Sonnenuntergang kam endlich der Fahrradbote von „Deli Very Here – wir liefern überall hin“. Er sah etwas erschöpft aus, aber die Lieferung war intakt. Ich wandte mich an meinen Gast-Geisel-Geber-Nehmer.
„Tarik, danke für deine Gastfreundschaft. Hier ist mein Gastgeschenk.“ Feierlich überreichte ich ihm einen lauwarmen Zwiebelkuchen und eine Literflasche angegorenen Suser. „In meiner Heimat gilt es als schwere Beleidigung, wenn man einen Rest in der Flasche lässt und weniger als sechs Stücke Kuchen isst“, fügte ich mit ernster Miene hinzu.
Als Tarik auf der Toilette hinter dem Haus verschwand, packte ich meine Sachen und machte mich aus dem Staub. Kurz bevor ich die Straße erreichte, traf mich ein Stoß an der Schulter. Mist, dachte ich, normalerweise kommt man nach Zwiebelkuchen mit Suser nicht so schnell von der Toilette runter. Es war aber nur die SinnlosReisende, die mich weckte. Ich war wohl eingenickt.

Albanische Bergfrüchte
In Albaniens abgelegenen Bergen leben die Bauern seit Jahrhunderten mehr schlecht als recht vom Verkauf von Nüssen, Feigen, Kastanien und Granatäpfeln. Aber in manchen Tälern gedeiht eine Pflanze, die den armen Bauern zu erstaunlichem Wohlstand verhalf. Es handelt sich um einen speziellen Bergtee, dem eine entspannende und schmerzstillende Wirkung nachgesagt wird. Er muss sehr empfindlich gegen Sonnenlicht sein, denn er wird nur versteckt unter dem Ladentisch oder nachts gehandelt.

Fleißige Hände verarbeiten die Ernte gleich beim Erzeuger und auch der Vertrieb in zahlreiche europäische Länder wird selbst organisiert. Zollabgaben und Steuern wurden konsequent wegrationalisiert. Direktmarketing in Reinform. So bleibt der größte Teil des Gewinns beim Erzeuger und man fährt hier Porsche oder Mercedes. Als Zweitwagen.


Natürlich ärgert sich der Staat, dass der Bergtee am Fiskus vorbei verkauft wird, quasi Schwarztee. Daran ändern auch die großzügigen Spenden an Polizei und Politiker nichts. Im Jahr 2014 versuchten achthundert Polizisten, die Tee-Plantagen von Lazarat in einer groß angelegten Razzia zu zerstören. Die tapferen Bergbauern verteidigten sich tagelang mit Maschinengewehren und Panzerfäusten. Am Ende gewann die Polizei und die armen Bauern mussten ihren Anbau ins Nachbartal verlegen.

Wir hatten uns vor der Rückfahrt noch mit einigen Tütchen der lokalen Spezialität eingedeckt, obwohl dieser Tee erstaunlich teuer war. Aber man soll ja als Tourist die lokalen Bauern unterstützen. Ein Päckchen schenkten wir unserer 80-jährigen Nachbarin als Dank fürs Blumen gießen. Die lud gleich ihre Freundinnen zum Teekränzchen ein und was soll ich sagen? Der Tee kam unglaublich gut an. Bald war aus dem Nachbarhaus nur noch albernes Gekicher zu hören.

Am nächsten Morgen stand noch vor Sonnenaufgang die Drogenfahndung vor der Tür unserer Nachbarin. Die Hunde bellten wie von Sinnen den leeren Teebeutel an. Als die Nachbarin zu unserem Haus rüberzeigte, drückte ich die Toilettenspülung. Schade um den guten Tee.
Du hattest wohl auch schon eine Tasse Bergtee intus, als du so wild träumtest? 😉
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Ha ha, ja könnte man meinen. Aber meine Fantasie dreht auch ohne Doping Extrarunden 😀
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Zu deiner Leser Glück! Hab sehr gelacht.👍
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Kös!tlich, vor allem der Blutrachetraum!
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Danke! Manchmal kommen mir halt so sinnlose Gedanken 🤷♂️
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Leider habe ich nicht das Buch von Karl May ueber das Land der Skipetaren gelesen, aber genau so habe ich mir das Land schon immer vorgestellt. Unser Reiseleiter auf Korfu in Griechenland sagte: „Albanien ist nicht mehr Europa, das ist eine andere Welt.“ Da ich gerne Statistiken studiere bin ich der Meinung dass Albanien, trotz Blutrache sicherer ist als Sudafrika,Jamaika oder Nigeria. Aber es ist sicherlich ein gutes Gefuhl wenn man eine Reise in ein Land der dritten Welt uberlebt hat.
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Da stimme ich dir zu. Wir haben uns in Albanien sicherer gefühlt als in vielen anderen europäischen Ländern.
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Das ist mal ein irrer Landstrich in Europa. Mir ist mal als Interrailer auf Sizilien so was wie Dein Traum passiert, kein Dolch, aber geschickter Betrug um meine knappen Travellerschecks. Tolle Reiseeindrücke, samt Fotos. Ganz und gar nicht sinnlos👍
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Danke
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Wow, wow, WOW zu den Bergfotos!
Und die Brücken stehen auch so richtig schön fotogen da.
Ein guter Roman über die albanische Blutrache ist „Der zerrissene April“ von Ismail Kadare.
Und ein sehr beeindruckender Aspekt der „Besa“, der Gastfreundschaftsvorschriften im „Kanun“, ist, dass die Albaner während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg alle ihre Juden versteckt haben und sich geweigert haben, diese an die Nazis auszuliefern.
Albanien war sogar das einzige von den Nazis besetzte Land, das am Ende des Zweiten Weltkriegs eine größere jüdische Bevölkerung als zuvor hatte, weil die Albaner auch den aus Jugoslawien fliehenden Juden Unterschlupf gewährten.
Ich hatte in Tirana ein Zimmer bei einer Frau gemietet, deren Vater ebenfalls die jüdischen Nachbarn versteckt hatte. (Siehe Ende dieses Artikels: https://andreas-moser.blog/2020/09/27/kollaboration/ ) Obwohl es eine muslimische Familie war (wie die meisten Albaner), holten sie sich einen Weihnachtsbaum und lernten Weihnachtslieder, um die jüdischen Gäste als Christen zu tarnen.
Als ich, mit Tränen in den Augen, etwas von Bewunderung und Mut und so stammelte, sagte sie: „Wieso? Das ist doch normal, dass man anderen Menschen hilft. Das hätte jeder so gemacht.“
Wirklich ein beeindruckendes Land.
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Ja, das stimmt, dort wird Gastfreundschaft wirklich ernst genommen. Wir wurden auf einem Campingplatz mit einem Teller Obst begrüßt. Weil das halt so üblich ist, meinte die Betreiberin.
Für dich als Rechtsexperte müsste das ja hochinteressant sein, wie sich diese ungeschriebenen Gesetze und die geschriebenen Gesetze vertragen bzw. widersprechen, vor allem in der historischen Entwicklung. Ich erinnere mich schwach daran, dass irgendeine Regierung versucht hatte, die Selbstjustiz mittels Blutrache durch einen Katalog von Bussgeldern zu ersetzen. Mit gemischtem Erfolg.
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Ich kann tatsächlich auf Reisen den Juristen in mir nicht abschalten und finde so etwas wahnsinnig spannend.
Wobei ich in Albanien nur zu kurz war, um einzusteigen. Und dann war ich hauptsächlich in den Städten unterwegs, wo ich den Eindruck hatte, dass die Menschen den „Kanun“ als etwas Rückständiges aus den Bergen ansahen. (Wahrscheinlich waren sie selbst nie in den Bergen gewesen.)
Beim nächsten Albanien-Aufenthalt muss ich der Sache mal auf den Grund gehen.
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Ach, was bin ich froh, dass du noch mit dem Leben aus Tareks Gastfreundschaft(haft) entkommen konntest. Hätte es eventuell die Wogen geglättet, hättest du angeboten, die albanische Tochter zu heiraten? Gut, dann hätte vielleicht die Sinnlosreisende eine Blutfehde ausgerufen, aber fürs erste wärest du in Sicherheit gewesen 😉
Und von dem Tee ist nix mehr da? Wie schade *seufz*
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Alles weg, sorry. Aber Lauterbach arbeitet intensiv am Nachschub…
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Aber mal im Ernst, als ich in Nepal war, wuchs das Zeug auf jedem Feldrand und gefühlt an fast jeder Terrasse oder Garten einfach so als Unkraut vor sich hin. Ich bin allerdings nicht informiert darüber, inwieweit das zum BIP des Landes beitrug… 😉
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Hanf ist eine unglaublich nützliche Pflanze (der hierzulande recht beliebte Hopfen gehört übrigens zur Verwandtschaft), gleichwohl ist auch die beste Hanf – Seilschaft monetär nicht viel wert, wenn der THC – Gehalt im internationalen Vergleich nicht recht mithalten kann… Albanien und gewiß auch einige benachbarte Regionen, wie Montenegro, sind sicherlich nicht unmittelbar mit, hm, wenn wir schon in den Bergen sind: sagen wir mal: Ischgl oder anderen Skitouristenzentren zu vergleichen. Dort wird man wohl kaum mit blutrünstiger Ehrbarkeit verfolgt…
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Klasse Blog, Marco! Albanien … Da möchte ich wirklich bal mal hin!
Atenberaubende Bilder.
Das Lesen von Asterix Bänden beflügelt übrigens nachweislich die Phantasie. Besonders der Band XX 🙂
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Hallo Wolfgang,
Ja genau, mich hat das mit diesen komischen Ehrenmorden an Asterix in Korsika erinnert. Wie gut, wenn man die Weltliteratur aus seiner Jugendzeit parat hat. 😉
Albanien ist echt eine Reise wert. Tolle Landschaften, Berge, Strände und nette Menschen.
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Raue Gegend dort … und Gebräuche … aber auch herzlich irgendwie.
Ich stand mal auf der Korfu-Seite, blickte rüber und dachte …
Ach sie mal an, so sieht also Albanien aus.
Grüße aus Lisboa
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Bestimmt hat man dich aus einem albanischen Bunker genau beobachtet 😉
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Immer noch gefangen in Albanien oder vielleicht eher im dauernden Genuß des Tees der Berge?
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Wie konnte mir dieser grandiose Beitrag nur so lange durch die Lappen rutschen? Vielleicht hatte ja auch ich einen im Tee. Wieder schallend gelacht!
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Danke. Ich bin ja schon zufrieden, wenn ich Menschen im November zum Lachen bringe.
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👌👌👌
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Image Albania joins the EU and all the great habits of this nation will be adapted by the rest of Europe.This will create a real change of thinking and nobody has to ask a friend in Amsterdam to get weed anymore.
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😂😂👍
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